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Aktuelles: Die Komplexit?t der Zukunft

Prof. Dr. Harald Lesch über Grundlagenforschung für Nachhaltigkeit – ?ffentlicher Vortrag bei der DPG-Tagung an der UR

08. September 2022, von Tanja Wagensohn

  • Physik
  • Forschung

Vortr?ge schaffen es selten, das Audimax der Universit?t Regensburg an die Grenzen seines Fassungsverm?gens von 1475 Pl?tzen zu bringen. Einer aber schafft’s mühelos und der Referent holt sich auch noch über 400 Interessierte online dazu: Professor Dr. Harald Lesch, Physiker, einer breiten ?ffentlichkeit aus ?Leschs Kosmos“ oder ?Terra X“ bekannt. Er sprach am Abend des 6. September 2022 in einem ?ffentlichen Vortrag zum Thema ?Grundlagenforschung für Nachhaltigkeit“ an der Universit?t Regensburg bei der Jahrestagung der Sektion Kondensierte Materie der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG). Dr. Ulrich Bleyer, DPG-Vorstandsmitglied ?ffentlichkeitsarbeit, begrü?te seinen Kollegen zu einem ?gigantischen Physik-Fest“ im von der UNESCO initiierten Internationalen Jahr der Grundlagenforschung für nachhaltige Entwicklung.

?Achtung!“ warnt Lesch das mehrheitlich junge Publikum zu Beginn, ?dies ist ein konspirativer Abend, Sie h?ren einem Wissenschaftler zu“. Die fachliche Tiefe und inhaltliche Komplexit?t seines Vortrags beweisen dies zweifellos, doch l?sst er sein Publikum das auch vergessen, denn alles ?kommt irgendwie so leicht daher“, sagt ein begeisterter Student nach der Veranstaltung. Dass es ?so leicht daherkommt“, ist zweifelsfrei harte Arbeit, hinzu kommen Talent und Humor. Leschs einstündiger Auftritt ist souver?n, rhetorisch raffiniert, witzig. ?Harald Lesch ist ein deutscher Astrophysiker, Naturphilosoph, Wissenschaftsjournalist, Fernsehmoderator und H?rbuchsprecher“, steht in seinem Wikipedia-Eintrag. Was fehlt: Harald Lesch ist Schauspieler. Ein Tausendsassa mit gewaltiger Bühnenpr?senz. Er fordert die Vorstellungskraft des Zuschauers, der Zuschauerin, heraus, wie gutes Schauspiel es tun soll. Dabei bleibt er Minimalist, braucht keine Kulissen, kein Kostüm, keine Effekte. In den ersten Minuten erinnert er mittels eines Witzes daran, dass beim Thema Nachhaltigkeit alle ruckzuck zu ?Spiegelguckern“ würden – man sehe nur sich selbst.

Zwischen Globus und Planet

Lesch tritt auf, das Audimax wird zum Sternentheater. In fünf Minuten schafft Harald Lesch eine szenische Anordnung auf der weitgehend leeren Bühne, deren Requisiten sich bis zu diesem Zeitpunkt auf einen Eimer, eine Tafel, das tagungsübliche unverst?ndliche Blumengesteck und ein Rednerpult beschr?nken. ?Zu meiner Linken – das ist der Globus. Die Erde, wie wir sie benutzen, wie wir sie in Ketten legen, in Netze, in Pipelines. Der Globus, das ist der Planet, den wir ausnehmen, aus dem wir herausholen, was wir k?nnen, seit vielen Jahrhunderten.“ Dann rückt Lesch die andere Bühnenseite ins Blickfeld: ?Hier rechts sehen Sie den Planeten, den wir auf diesem Weg ver?ndern.“ Fortan begleiten Globus Erde und Planet Erde den Redner, den stellvertretenden Menschen, der sich zwischen beiden bewegt und der sich vor allem eins wünscht: Wohlbefinden und Gesundheit.

Lesch er?ffnet eindringlich: Beim Globus geht es um Nachhaltigkeit und Nutzbarkeit, ?aber wir nutzen ihn aus“. Beim Planeten geht es um viel Fundamentaleres: Bewohnbarkeit. Es ist ein leidenschaftlicher Appell, der folgt: ?Es geht um alles! Es geht um die F?higkeit des Lebens auf einem Planeten, sich tats?chlich zu erhalten!“ Der Globus, sagt Lesch, nur einige Hundert Jahre alt, kenne Begriffe wie ?Rendite“ und den Homo sapiens, ?der offenbar in der Lage ist, dramatische Ver?nderungen vorzunehmen, die bis ins planetare System hineinreichen“. Der Planet gegenüber ist ein Produkt der kosmischen Entwicklung, des Sonnensystems, entstanden, weil ein Stern explodierte: ?Und alle seine Elemente, alles, was hier sitzt, alles worauf Sie sitzen, und das, was da spricht – all diese Elemente stammen von diesem Stern“. Das ist 4,567 Milliarden Jahre her. ?Woher wissen wir das?“ Lesch umkreist fast genüsslich den Planeten, bevor er die Frage beantwortet: ?Von Steinen, von Meteoriten, von den genauen Grundlagenanalysen der Zusammensetzung dieser Elemente, ihrer Isotope.  Wir k?nnen die Geschichte unseres Planeten erz?hlen, weil wir schon enorm lange Grundlagenforschung betreiben, und das nicht nur im Labor! Wir k?nnen damit kosmische Geschichte rekonstruieren.“ 

Physik – dessen ist Lesch sicher – ist l?ngst zu einer historischen Wissenschaft geworden. Nicht überall, aber in der Astronomie, der Geophysik und der Biologie – ?drei wichtige Wissenschaften, die uns erkl?ren, woher wir kommen.“ Lesch berichtet vom Beginn des Planeten, den Steinen und Kristallen, die uns sein Alter verraten, von der durch Grundlagenforschung m?glich gewordenen Rekonstruktion der Bedingungen, unter denen auf diesem Planeten Leben entstanden ist. Aus all dem resultiert ?das Weltbild, aus dem wir seit 400 Jahren den Globus geschaffen haben“: Im Jahr 1572 habe ein d?nischer Forscher einen neuen Stern am Himmel beobachtet und Ungeheuerliches passieren lassen. Nun gelang es, zu berechnen, wie die Planeten sich bewegten oder wann es zur n?chsten Sonnen- und Mondfinsternis k?me. ?Es gelang sogar, die Bahn von Kometen zu prognostizieren und zu sagen - der ist in 76 Jahren wieder da. Die Himmelsmechanik holte den Himmel auf die Erde, auf den Schreibtisch, ins Labor.“ Aus diesen Berechnungen ergaben sich Prognosen, aus diesen Vorhersagen. ?Und aus den Vorhersagen ergab sich ein Weltbild, in dem Natur berechenbar ist.“

Ein Jurassic-Park-Experiment

Was folgte, war die Vermutung, dass in den Naturgesetzen ?eine Funktion steckt, die ich nutzen kann.“ Nun wurde Grundlagenforschung gemacht, um direkt umgesetzt zu werden, etwa in Maschinen, die besondere Eigenschaften besitzen. Neu waren die Erkenntnisse zu periodisch wiederkehrenden Rhythmen – die immer wieder aufgehende Sonne, die Rückkehr der Jahreszeiten. ?Nun lebt der Mensch aus dem Vertrauen heraus, dass er die Natur immer besser kennt und immer besser kontrolliert“, sagt Lesch. Doch – ?dann lief etwas schief“. Forschung wurde immer abstrakter, immer theoretischer, sie hatte in ihren Auswirkungen auf den Planeten immer drastischere Folgen. ?Heute sind wir technologisch am Rande der erkennbaren Wirklichkeit angekommen. Wir nutzen Lichtgeschwindigkeit! Unser Alltag ist bestimmt von digitaler Technik, von Unmengen von Informationen, die um den Globus herumjagen.“ Ein Globus, den Liefer- und Wertsch?pfungsketten dominieren, um den Finanzstr?me rasen, den die Gier beherrscht, ?den wir behandeln, als würde er uns geh?ren“.

Lesch wendet sich nun dem Planeten zu, den all das beeinflusst: ?Wir haben die Atmosph?re mit Gasen angefüllt, so dass die mittlere Temperatur auf dem Planeten steigt und steigt, was dazu führt, dass es immer weniger Eis gibt. Daraus kann man mal durchdeklinieren, was demn?chst passiert.“ Wei?es Eis verschwindet, wenn es zu warm wird, daraus wird in der Arktis dunkles Wasser. Tausende Quadratkilometer wei?er reflektierender Fl?che werden dunkel. ?Die Sonne strahlt und h?mmert ihre Energie immer weiter drauf. Die dunklen Fl?chen absorbieren die Energie, es wird w?rmer, noch mehr schmilzt, es entstehen Rückkopplungsprozesse.“ Die erste Form von Nicht-Linearit?t, sagt Lesch, einen Kreide-Kreis an die Tafel zeichnend: ?Wir haben eine Ursache, wir haben eine Wirkung. Und die Ursache wirkt auf die Wirkung zurück. Wir haben es zunehmend mit Instabilit?ten zu tun.“

百利宫_百利宫娱乐平台¥官网e k?nnten dazu führen, dass es den Planeten ?zerrei?t“. Entladeprozesse in der Atmosph?re, die zu Wetterexzessen führen, k?nnen sich alle ja schon anschauen, sagt Lesch: Starkwetterexzesse, auch in Deutschland, weltweit austrocknende Flüsse. Campingstühle im Yangtse? ?Heute ist ein Tag, der uns klar machen sollte, dass Kernenergie keine langfristige Option für die Versorgung eines Landes ist.“ Denn wenn die Flüsse versiegen, wenn das Wasser nur zu warm ist, fehlen Kühlungsm?glichkeiten für Kernkraftwerke: ?Wir sollten aufh?ren, in die Kreisl?ufe der Erde einzugreifen und besser den Fusionsreaktor verwenden, der in 150 Millionen Kilometern Entfernung von uns Wasserstoff zu Helium verschmilzt. Wunderbar macht sie das! Wirklich grandios!“ Die Menschheit, sagt Lesch, solle sich doch zumindest in den reichen L?ndern, dazu aufmachen, die Sonne zu nutzen, statt für Energiegewinnung fossile Ressourcen aus dem Planeten herauszurei?en und damit planetare Kreisl?ufe massiv zu st?ren. Die Betroffenheit im Publikum wird spürbar, als Lesch vor dem ?Jurassic-Park-Experiment“ warnt, 300 Millionen Jahre alte Kohlenstoffe aus dem Boden zu knacken.

Die Komplexit?t der Systeme

?Der Globus schreit – behandle mich nachhaltig, damit der Wirtschaftskreislauf immer so weitergeht…“, ruft Lesch. Und wolle man nicht nur nachhaltig sein, sondern sogar (!) dafür sorgen wollen, dass der Planet bewohnbar bleibt, ?dann müssen wir diesen Planeten in seiner Systemhaftigkeit betrachten.“ Nun wendet sich Lesch direkt an die Grundlagenforschung: Sie m?ge sich Netze und Bedingungen anschauen, die ebenfalls komplex sind, sie m?ge Prozesse in den Mittelpunkt rücken, sie m?ge doch interdisziplin?rer werden, sich ?viel mehr der verschiedenen Methoden der verschiedenen Naturwissenschaften bedienen, um überhaupt die Systeme, die auf dem Planeten existieren, verstehen zu k?nnen.“

?Wir wissen, was die Welt im Innersten zusammenh?lt“, sagt der Physiker. ?Aber das Darüberhinaus, was sie bewegt, was sie werden l?sst, wie sie es schafft, immer wieder neue Eigenschaften in Form von neuen Lebewesen zu kreieren, oder neue ?kosysteme zu kreieren, das ist die entscheidende Frage.“ Eine Mahnung in die eigenen wissenschaftlichen Reihen gibt es dann auch: ?Kleinste Ver?nderungen in Ursachen führen zu g?nzlich anderen Wirkungen! Die Welt der Himmelsmechanik ist die Welt, in der du Mittwoch wei?t, wer dich am Sonntag besucht. Aber die wirkliche Welt ist ganz anders! Je mehr Prozessketten am Werk sind, je mehr Einflussparameter sich gegenseitig unterstützen, umso komplexer wird das System, umso st?rker wird es abh?ngig von leichten Schwankungen der Bedingungen.“ Die Komplexit?t der Gegenwart werde nur noch übertroffen von der Komplexit?t der Zukunft. Ins intensive Schweigen des Publikums klingelt ein Handy. ?Gehen Sie ruhig ran,“ sagt Lesch mit einem Anflug imagin?rer Resignation, ?vielleicht ist es Stockholm.“

Grundlagenforschung: existentielle Not

Künftige Grundlagenforschung müsse sich ob der zunehmenden Komplexit?t in Anthroposph?re und Natursph?re um Prozesse kümmern. Nicht der Planet allein, auch die Menschen seien in Gefahr. ?Wir brauchen auch als Menschen eine bestimmte Au?entemperatur.“ Klimaanlagen seien ein Energieproblem, sorgten aber auch dafür, dass die Menschen ihre Innentemperatur gegenüber der Au?entemperatur nicht mehr regulieren k?nnen. Und dann? ?Vorbei!“  Grundlagenforschung, wiederholt Lesch mehrfach, werde zu einer existentiellen Not: ?Wir müssen wissen, wie Natur funktioniert, damit wir sie nicht kaputt machen. Wir müssen Systemeigenschaften verstehen, wie das eine mit dem anderen zusammenh?ngt. Das hat was mit den Zeitskalen zu tun, auf denen wir Forschung betreiben. Der unmittelbare Gewinn, der unmittelbare Nutzen von Forschung, der gefordert wird, der ergibt sich unter Umst?nden erst viel sp?ter. Aber dadurch, dass wir Wissen und Forschungsgewinn haben, k?nnen wir viel schneller reagieren. Wir sind in einer Transformationssituation.“

Zwischendurch h?lt Lesch ein Schw?tzchen mit der Thermodynamik. ?rgert sich über den Wahn, dass alles sich sofort rentieren müsse. Pl?diert für einen Parlamentsausschuss für Grundlagenforschung. Sinniert über den sozio?konomischen Mainstream, der nun am Ende des ?business as usual“ stehe und sich überlege, ob die grünen Spinner mit den Photovoltaik-Anlagen vielleicht doch alternative Lebenskonzepte parat haben. Man stelle sich vor, man h?tte in den 1950-er Jahren eine Entscheidung zugunsten von Windkraft anstelle von Atomkraft gef?llt. Dann stünde man in Sachen erneuerbarer Energie, für Lesch der einzige Weg in die Zukunft, ganz anders da. ?Wie hei? soll es denn werden?“ Selbst die pessimistischsten Szenarien waren vielleicht noch zu optimistisch. Alles sei viel schneller passiert, ?als wir es uns ursprünglich gedacht haben“. Es gab lange Warnungen, aber man habe sie nicht geh?rt, habe den Forschenden gar vorgeworfen, sie seien feindlich gegenüber der Modernisierung.

Man müsse an die ?ffentlichkeit gehen, sich in den ?ffentlichen Diskurs hineinbegeben, ?wenn das, was wir produzieren, Wirkung haben soll“, bekr?ftigt Lesch am Ende seines Vortrags im Dialog mit Ulrich Bleyer. ?Wir produzieren mit unseren Messungen sehr pr?zise Ergebnisse, und das seit sehr langer Zeit.“ Und wie h?lt man’s mit der Nützlichkeit? Müsse man sie nicht auch bei der Grundlagenforschung einfordern, fragt Bleyer. ?Ich denke, dass sie mitgedacht werden sollte“, antwortet Lesch. ?Aber nicht nur.“ Es k?nne sehr wohl sein, dass sich Nützlichkeit von Grundlagenforschung eben erst im Laufe der Zeit ergibt. Doch man müsse eben dieser Grundlagenforschung ihren Platz lassen, nicht pausenlos nach der L?sung für das eine oder andere Problem fragen, ?das engt unseren Blick zu sehr ein.“ Und die Muss- und Soll-Einmischung der Naturwissenschaften? ?K?nnen wir uns aus moralischen Fragen raushalten, die keine physikalischen im eigentlichen sind?“, fragt Bleyer. ?Natürlich sind alle, die Physik betreiben, auch Menschen im weitesten Sinne“, sagt Lesch nonchalant. ?Die Verantwortung, die in unserer Handlungsfreiheit steckt, wird dadurch, dass wir etwas genauer wissen, noch verst?rkt.“

twa.

Informationen/Kontakt

Prof. Dr. Harald Lesch (externer Link, ?ffnet neues Fenster) ist seit 1995 Professor für Astrophysik am Lehrstuhl für Astronomie und Astrophysik – Beobachtende und Experimentelle Astronomie an bzw. bei der Universit?tssternwarte der Ludwig-Maximilians-Universit?t München. Zudem unterrichtet er Naturphilosophie an der Hochschule für Philosophie München. Seine Hauptforschungsgebiete sind kosmische Plasmaphysik, Schwarze L?cher und Neutronensterne. Er ist Fachgutachter für Astrophysik der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und Mitglied der Astronomischen Gesellschaft. Als Wissenschaftsjournalist und Fernsehmoderator kennt man ihn aus Sendungen wie ?Leschs Kosmos“ (externer Link, ?ffnet neues Fenster) Wer Harald Lesch live erleben m?chte, hat demn?chst dazu in Regensburg die M?glichkeit bei den Highlights der Physik (externer Link, ?ffnet neues Fenster)

Zu Dr. Ulrich Bleyer (externer Link, ?ffnet neues Fenster)

Zur aktuell auf dem Campus der UR stattfindenden DPG-Tagung (externer Link, ?ffnet neues Fenster)

Foto: Julia Dragan/UR
Professor Dr. Harald Lesch am 7. September 2022 an der Universit?t Regensburg.
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