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Aktuelles: Das Tagebuch zur Pandemie

Ein auto-ethnografisches Archivprojekt auf Initiative des Lehrstuhls für Geschichte Südost- und Osteuropas

13. Mai 2020, von Media Relations & Communications

Margit Scheid: Sehr geehrter Herr Professor Duijzings, als Sozialanthropologe sind Sie am Regensburger Lehrstuhl für Geschichte Südost- und Osteuropas t?tig. Gemeinsam mit Ihrer Kollegin, der Historikerin Dr. Heike Karge, haben Sie das ?UR COVID-19 Tagebuch“ ins Leben gerufen. Hier k?nnen seit dem 23. M?rz 2020 Mitglieder der Universit?t Regensburg auf der Lernplattform GRIPS an einem universit?tsinternen Tagebuch mitschreiben. Wie kamen Sie auf die Idee?

Prof. Dr. Ger Duijzings: Da sind drei Sachen zusammengekommen: Zum einen ist für mich als Anthropologe die Feldforschung wichtige Voraussetzung für meine Arbeit. Als dann Mitte M?rz die Auswirkungen der Corona-Krise spürbar geworden sind, wurde in anthropologischen Foren intensiv darüber diskutiert, wie man Feldforschung online weiterführen k?nnte. Dazu kam, dass meine Kollegin Heike Karge und ich für das Sommersemester ein Seminar zum Thema Emotionen geplant hatten und mir bald klar wurde, dass normale Pr?senzkurse nicht mehr würden stattfinden k?nnen. So reifte bei mir die Idee, etwas Alternatives zu versuchen. Da ich mich im vergangenen Jahr intensiv mit erfahrungsbasiertem Lernen auseinandergesetzt habe, war ich sozusagen ohnehin schon im Modus ?alternatives Lehren“. {web_name}e drei Aspekte haben mich letztlich auf die Idee der Feldforschung mithilfe eines online Tagebuchs gebracht.

PD Dr. Heike Karge: Als Ger Duijzings mich anrief und mir von seiner Idee erz?hlte, war ich sofort bereit, diesen Weg mitzugehen. Als Historikerin war mir klar, dass wir uns gerade in einer au?ergew?hnlichen historischen Situation befinden: Wir k?nnen jetzt, inmitten der Krise Quellen sammeln und Material aufzeichnen, das sp?tere Generationen einmal erforschen k?nnen. Aber das müssen wir jetzt tun, nicht erst in zwei Wochen oder in einem halben Jahr.

Frau M?ller, Sie geh?ren seit 1. April ebenfalls zum Team des Tagebuchprojekts. Wie kamen Sie als Doktorandin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Vergleichende Kulturwissenschaft ins Spiel?

Lena M?ller: Als vom Lehrstuhl für Geschichte Südost- und Osteuropas das Angebot kam, uns am Tagebuchprojekt zu beteiligen, habe ich schnell Feuer gefangen. Die Erz?hlforschung bildet einen Schwerpunkt an unserem Lehrstuhl und das Verarbeiten einer krisenhaften Zeit mittels Erz?hlungen stellt eine ganz grundlegende Kulturtechnik dar, die uns dabei hilft, etwas Ungreifbares oder Bedrohliches zu verarbeiten. Wichtig war mir bei diesem Projekt zudem, dass hier wertfrei und gleichberechtigt Stimmungsbilder w?hrend der Krise festgehalten werden.

 


Das hei?t, das Covid-19 Tagebuch ist offen für alle Mitglieder der Universit?t?

Ger Duijzings: Jeder, der einen RZ-Account hat, kann sich anmelden, um dann entweder  mitzulesen oder auch mitzuschreiben. Und jeder kann das in seiner eigenen Sprache tun. Neben Beitr?gen auf Deutsch gibt es auch Posts auf Englisch oder Spanisch.

Lena M?ller: Studierende, Dozierende, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schreiben auf der gleichen Ebene mit, es wird kein Beitrag besonders hervorgehoben oder gekennzeichnet. Das führt auch dazu, dass bisherige Rollenzuschreibungen aufgeweicht oder neu verhandelt werden


Wie ist die Resonanz auf das Tagebuch-Angebot?

Ger Duijzings: Zu Beginn haben wir klein angefangen und eine Mail über unseren Institutsverteiler geschickt, um auf das Projekt aufmerksam zu machen. Innerhalb weniger Stunden waren die ersten Anmeldungen und auch erste Eintr?ge da. Das ist dann weiter gewachsen, auch über die Grenzen unseres Instituts und des Lehrstuhls für Vergleichende Kulturwissenschaft hinaus. Anfang Mai hatten wir bereits 40 Autorinnen und Autoren, von denen 18 nur einen Beitrag und 22 mehr als einen Beitrag verfasst haben. Weitere zehn kann man als ?Vielschreiber“ bezeichnen, die fünf oder mehr Posts beigesteuert haben. Dreiviertel der aktiv Beteiligten dürften Studierende sein, der Rest sind Dozentinnen und Dozenten. An Eintr?gen habe ich Anfang Mai 160 gez?hlt, 100 kamen von der Gruppe der Studierenden, die restlichen 60 von den Dozierenden. Sehr erfreulich ist, dass die Zahl der Mitlesenden immer gr??er wird, im Durchschnitt loggen sich jeden Tag um die 200 Leute zum Mitlesen ein.

Zu jeder Woche ver?ffentlichen Sie eine Zusammenfassung, eine kurze Anthologie der eingegangenen Beitr?ge – das hei?t, Sie lesen jeden einzelnen Post?

Ger Duijzings: Wir lesen jeden Eintrag, machen uns Gedanken und Notizen dazu und erarbeiten auf dieser Grundlage für jede Woche eine Zusammenfassung: Was war den Schreibenden wichtig, welche Themen oder Vorkommnisse haben uns besch?ftigt. Die Moderation des Tagebuchs hat sich als weniger aufwendig herausgestellt, als wir befürchtet hatten. Es ist gro?artig zu sehen, wie gut sich alle an unseren Verhaltungskodex halten.

Heike Karge: Wir haben die M?glichkeiten zum Austausch, die GRIPS als E-Learning-Plattform grunds?tzlich bietet, bewusst eingeschr?nkt. Das online Tagebuch ist ein geschützter Raum, in dem Gefühle, Meinungen und ?ngste ausgedrückt werden k?nnen. Wir wollten bewusst keinen Platz für beleidigende Kommentare, ausufernde Diskussionen oder Hate Speech lassen.


Wie würden Sie allgemein die Stimmungslage beschreiben, die sich in den Tagebucheintr?gen wiederspiegelt? Gibt es wiederkehrende Themen, werden Sorgen mitgeteilt?

Lena M?ller: Was den individuellen Stil betrifft, stellen wir einen gro?en Spielraum fest. Manche schreiben humorvoll, andere führen Protokoll über ihren Alltag und dann gibt es auch sehr nachdenkliche Eintr?ge. Spannend ist auch zu sehen, wie das aktuelle Tagesgeschehen in die Beitr?ge einflie?t: Zum Beispiel ist die Zahl der Beitr?ge eingebrochen, als die Vorlesungszeit wieder losging – weil viele vollends mit der Organisation ihres Studiums oder der Lehre besch?ftigt waren. Kurz darauf kam aber eine Welle von Beitr?gen, in denen die Autor*innen ihre Eindrücke von den Anlaufschwierigkeiten, den Herausforderungen sowie von den Vor- und Nachteilen der digitalen Lehre geschildert haben.

Heike Karge: Mir sind vor allem drei wiederkehrende Themen aufgefallen: Das erste ist die Raumwahrnehmung, die Diskrepanz zwischen innen und au?en, privat und ?ffentlich. Das zweite, immer wiederkehrende Thema ist die Online-Lehre. Und schlie?lich werden immer auch wieder ?ngste kommuniziert.

Ger Duijzings: Tats?chlich wird in manchen Eintr?gen sehr deutlich, wie belastend die Situation für den jeweiligen Autor oder die Autorin ist. In diesen F?llen sind wir uns unserer Verantwortung als Initiatoren des Projekts sehr bewusst und kommen unserer Fürsorgepflicht nach. Schon in der Konzeptionsphase des Tagebuchs haben wir die Psychologische Beratungsstelle der Zentralen Studienberatung in unser Projekt eingebunden: Zum einen weisen wir auf der Startseite des Tagebuchs deutlich auf die Unterstützung hin, die das Team der Psychologischen Beratungsstelle in pers?nlichen Krisensituationen anbietet; zum anderen nehmen wir auch direkt Kontakt auf, wenn wir besorgniserregende Eintr?ge lesen.

Lena M?ller: Wobei wir grunds?tzlich Beitr?ge über Einsamkeit, über die Auswirkungen der Isolation, über das Aufkommen von negativen Gefühle nicht ausklammern oder zensieren wollen. Auch das hat in unserem Tagebuch Raum.

Heike Karge: Erst letztes Jahr hat die Universit?t eine Fortbildung zum Umgang mit schwierigen Beratungssituationen organisiert, wo wir gelernt haben, inwieweit wir als Dozierende Hilfestellung anbieten k?nnen und wohin wir betroffene Studierende weitervermitteln k?nnen. Ich kann nur betonen, wie wichtig solche Angebote sind, nicht nur in der jetzigen Krise, sondern auch im vermeintlich ?normalen“ Arbeitsalltag.


Mir scheint, dass die Corona-Krise insgesamt das Bedürfnis verst?rkt hat, sich und seine Gedanken mitzuteilen – sei es im privaten Bereich oder auch ?ffentlich über Blogs oder über teil-?ffentliche Angebote wie Ihr Tagebuch. Teilen Sie diese Einsch?tzung und sind Ihnen vergleichbare Projekte an anderen Standorten bekannt?

Ger Duijzings: Tats?chlich gibt es gerade an vielen Orten ?hnliche Initiativen, eine kurze ?bersicht haben wir auf der GRIPS-Seite zusammengestellt. Au?erdem kann man auf der Homepage der International Federation for Public History eine Karte aufrufen, die Public History-Projekte im Zusammenhang mit COVID-19 verortet: https://ifph.hypotheses.org/3225 (externer Link, ?ffnet neues Fenster). Was unser Projekt auszeichnet, ist die des Tagebuchs – das Schreiben in der ersten Person, der ganz pers?nliche Blickwinkel. Das ist hier keine theoretische, distanzierte Betrachtungsweise der Situation, wichtig ist uns gerade auch die Vermittlung des Gefühls, dass niemand allein sein muss. Hier betreiben wir auch ein Stück weit Seelsorge.


Das Covid-19 Tagebuch ist aus der Idee für ein Seminar entstanden – nutzen Sie das Tagebuch auch aktuell in der Lehre?

Heike Karge: Das Tagebuch ist in dem von Ger Duijzings und mir veranstalteten Kurs ?Emotionen: historische und anthropologische Ans?tze“ zweigleisig eingebunden: Zum einen k?nnen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aktiv und regelm??ig am Tagebuch mitschreiben und dies – in Verbindung mit der theoretischen Reflexion von Hintergrundtexten – als Studienleistung anerkennen lassen. Zum anderen analysieren wir die Tagebucheintr?ge zum Beispiel hinsichtlich der Frage, wo und auf welche Weise Emotionen sichtbar werden.

Ger Duijzings: Den Plan, ein Seminar zum Thema Emotionen anzubieten, hatten wir schon im Wintersemester entwickelt; ursprünglich h?tten wir uns dem Thema eher auf der theoretischen Ebene gen?hert. Aber die Coronakrise hat sehr schnell von der Theorie weg in die Praxis geführt: Es h?tte wenig Sinn, rein theoretisch über das Thema zu reflektieren, wenn die Krise und die durch sie ausgel?sten Emotionen gerade unmittelbar um uns herum sind.

Lena M?ller: In der Vergleichenden Kulturwissenschaft gehen wir im Seminar ?Gemeinsam einsam. Teilnehmende Perspektiven auf die Schaffung virtueller Treffpunkte im Internet“ der Frage nach, wie trotz r?umlicher Distanz in den sozialen Medien ein Wir-Gefühl aufkommen kann, wie ein gemeinsamer virtueller Alltag gestaltet wird und in welche Rollen sich die beteiligten Akteure begeben. Im Sinn der ?teilnehmenden Beobachtung“ besuchen wir als Forschende zum Beispiel online ein Wohnzimmerkonzert und nutzen das Covid-19 Tagebuch als Reflexionsm?glichkeit der eigenen Gefühle im Feld.


Wie wird es langfristig mit dem Projekt weitergehen?

Ger Duijzings: Das wissen wir im Moment selbst nicht genau. Wir machen weiter, solange der Bedarf zu schreiben und lesen weiterbesteht.

Lena M?ller: Auch eine Normalisierung des Alltags ist dokumentationswürdig. Das hei?t, wenn sich das Interesse unserer Autor*innen verlagert, interessiert uns das in wissenschaftlicher Hinsicht ebenfalls.

Heike Karge: Das Sch?ne an unserem Projekt ist seine Offenheit – es hat offen begonnen und genauso darf es auch enden.


Aus Sicht ihres Faches – haben Sie einen Rat, wie wir gut durch die Krise und die derzeitige Ausnahmesituation kommen?

Ger Duijzings: Mein Tipp ist sehr einfach: Schreiben Sie Tagebuch! Durch das Schreiben sortiert man seine Gefühle und Gedanken und kann die Welt um uns herum besser verkraften.

Heike Karge: Ich stimme Ger Duijzings zu, auch mein Rat ist: Tagebuch schreiben. Allerdings aus einer anderen, historischen Motivation heraus! Wenn Sie jetzt Ihre Gedanken und Erlebnisse aufzeichnen, dann k?nnen Sie sp?ter ihren Kindern und Enkeln davon erz?hlen, wie es war – denn dann haben Sie Ihre Notizen.

Lena M?ller: Die Krise birgt ein gro?es Kreativit?tspotential, das wir nutzen sollten, zum Beispiel für Ideen zur Nachbarschaftshilfe oder um neue Wege für kulturelle Angebote zu bestreiten. Mein Rat aus fachlicher Sicht ist, dass wir unsere eigene Handlungsmacht nicht geringsch?tzen sollten.

 


Haben Sie vielen Dank für das Gespr?ch.

Das UR Covid 19 Tagebuch ist unter folgender Adresse auf der E-Learning-Plattform GRIPS aufrufbar: https://elearning.uni-regensburg.de/course/view.php?id=41734 (externer Link, ?ffnet neues Fenster). Nachdem Sie sich mit Ihrem RZ-Account angemeldet haben, k?nnen Sie Beitr?ge lesen oder selbst am Tagebuch mitschreiben. Bitte beachten Sie die dabei die Tagebuch-Regeln und den Verhaltenskodex.

Weiterführende Links:

W?hrend der Kontaktbeschr?nkungen die beste Art ein Interview zu führen: die Videokonferenz. Bildschirmfoto vom Interview mit (von links oben im Uhrzeigersinn) PD Dr. Heike Karge, Margit Scheid, Lena M?ller und Prof. Dr. Ger Duijzings
Foto: Lena M?ller
Gru? des Garbo Altstadtkinos;
Foto: Lena M?ller
Schaufenstergrü?e in der Regensburger Altstadt;
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