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Aktuelles: Todesraten vs. Infektionszahlen – welche Daten in der Corona-Krise weiterhelfen

Ein Interview mit Prof. Dr. Henning Ernst Müller

23. April 2020, von Margit Scheid

Henning Ernst Müller ist Professor für Rechtswissenschaft und hat an der Universit?t Regensburg den Lehrstuhl für Strafrecht, Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzugsrecht inne. In seiner Forschung besch?ftigt er sich unter anderem mit der kriminologischen Dunkelfeldforschung, also mit Forschung zu Straftaten, die keinen Eingang in die polizeiliche Kriminalstatistik finden – weil sie im Verborgenen passieren, weil sie nicht angezeigt oder aufgedeckt werden. Prof. Dr. Müller ist also vertraut mit der Aussagekraft von offiziellen Statistiken und der dahinter verborgenen Dunkelziffer. In Zeiten der Corona-Pandemie besch?ftigen ihn die t?glich ver?ffentlichten Infektionszahlen und die Frage, was diese Zahlen überhaupt aussagen k?nnen. Wir haben mit ihm über seine ?berlegungen zu den Corona-Zahlenvergleichen gesprochen, die er seit Ende M?rz auch im beck-blog ver?ffentlicht hat.

Herr Professor Müller, Sie halten die t?glichen Vergleiche der positiv auf COVID-19 getesteten Personen für sinnlos. Erkl?ren Sie uns kurz warum?

Prof. Dr. Müller: Die Anzahl (wie viele werden überhaupt getestet?) und die Verteilung (wer wird getestet?) der Tests ist national, regional, gesundheitspolitisch und faktisch so unterschiedlich und Ma?st?be wie Selektionskriterien ?ndern sich im Zeitverlauf so stark, dass die Zahl und die Steigerungsrate der positiv Getesteten für die derzeitigen Regionen- und L?ndervergleiche objektiv praktisch wertlos ist. Das gilt genauso für Sterblichkeitsraten, bei denen die Todesf?lle als Anteil der positiv Getesteten dargestellt werden.

 
Was w?re aus Ihrer Sicht ein sinnvollerer Ansatz, um zu überprüfen, wie stark Deutschland von der Pandemie betroffen ist und ob die politischen Ma?nahmen greifen?

Mein Vorschlag von Ende M?rz war, in jedem Land, bzw. in jeder betroffenen Region eine repr?sentative Stichprobe der Einwohner zu ziehen und zu testen. Und das sollte man in regelm??igen Abst?nden tun, etwa alle 48 Stunden. Denn allein daraus, aus einer repr?sentativen Stichprobe, die Region, Geschlecht, Alter der Gesamtbev?lkerung abbildet, k?nnten Schlüsse darauf gezogen werden, wie hoch die Infektionsrate in der jeweiligen Bev?lkerung tats?chlich ist, wie stark sie steigt und wie viele Infizierte - voraussichtlich - schwer erkranken, also hospitalisiert oder beatmet werden müssen oder sterben. Schlie?lich l?sst sich auch nur so ermitteln, ob und inwieweit die Kurve der Neu-Infizierten aufgrund der getroffenen Ma?nahmen abflacht, die Ma?nahmen also erfolgreich sind oder nicht. Hier kommt auch das Dunkelfeld ins Spiel: Solange nicht jeder getestet werden kann oder zumindest eine repr?sentative Stichprobe der Bev?lkerung, werden selbst bei Absinken der tats?chlichen Neuinfektionsrate die gemessenen Infektionszahlen noch ansteigen, denn: Man sch?pft dann das bisher nicht getestete Dunkelfeld aus.

Mein Vorschlag ist nun kein neuartiges Wundermittel, das ich erfunden h?tte, sondern entspricht den anerkannten Methoden empirischer Forschung. Es hat mich aber gewundert, dass im Vordergrund der Berichterstattung und aller Vergleiche die aus den positiven Tests ermittelten Infektionszahlen stehen, die für Vergleichszwecke ungeeignet sind.

Im Laufe des April haben übrigens viele Forscher aus unterschiedlichen Disziplinen denselben Weg als zielführend beschrieben und es werden jetzt auch unter anderem vom RKI repr?sentative Studien geplant bzw. schon durchgeführt.

Wie bewerten Sie die – mittlerweile in die Kritik geratene - Heinsberg-Studie, bei der eine repr?sentativ ausgew?hlte Gruppe von 1.000 Personen auf eine Infektion mit dem Coronavirus getestet wird?

Die Idee hinter der Studie geht meiner Meinung nach in die richtige Richtung. Daraus zu gewinnende medizinische Daten sind wichtig zur Gesamtbeurteilung insbesondere der Gef?hrlichkeit des Virus, n?mlich durch die Einsch?tzung, welcher Anteil von Infektionen ohne Symptome verl?uft und deshalb normalerweise gar nicht entdeckt wird. Aber Aussagen zur Verbreitung des Virus in ganz Deutschland erm?glicht die Studie nicht, denn sie kann nur Aussagen treffen zu der Region, aus der die Stichprobe gewonnen wurde. Deshalb sind diese Daten auch nicht geeignet, um die Frage zu beantworten, ob man nun Distanzma?nahmen lockern sollte oder nicht.

In der Diskussion darüber, welches Land die Pandemie derzeit am besten im Griff hat, werden oft auch die Zahlen der an COVID-19 Verstorbenen ins Feld geführt. K?nnten diese Zahlen von Nutzen sein?

Tats?chlich k?nnen wir im Fall vonStaaten mit gut organisierten Gesundheitssystemen davon ausgehen, dass die durch COVID-19 verursachten Todesf?lle zwar l?ngst nicht perfekt, aber wesentlich besser und objektiver erfasst werden als die tats?chlichen Infektionszahlen. Aber auch hier spielt das Dunkelfeld eine Rolle, denn es sterben ja auch Menschen an COVID-19, die nicht auf das Virus getestet wurden oder in Behandlung waren. Voraussichtlich erst nach der Krise wird man wohl die Folgen COVID-19 für die Gesamtsterblichkeit einsch?tzen k?nnen, auch was die mittelbaren Sterbef?lle (durch allgemeine ?berlastung des jeweiligen Gesundheitssystems) angeht.

Sie haben eine Quelle gefunden, die die Todesraten von corona-gebeutelten Staaten miteinander vergleicht?

Ja, ich verfolge diesen Blog-Beitrag (der kontinuierlich aktualisiert wird): www.motherjones.com/kevin-drum/2020/04/coronavirus-growth-in-western-countries-april-19-update/ (externer Link, ?ffnet neues Fenster). Kevin Drum ist ein Blogger aus Kalifornien, der die Sterberaten von neun westlichen Industriestaaten – darunter auch Deutschland – regelm??ig auswertet und miteinander vergleicht. Er hat damit relativ früh begonnen, inzwischen finden sich aber im Netz viele Informationsportale, in denen diese Daten in Diagrammen dargestellt werden. Wichtig war mir, dass hier nicht die Infektionszahlen verglichen werden, sondern die Sterbef?lle relativ zur Bev?lkerungsgr??e.

Welche Erkenntnisse konnten Sie aus seiner Statistik ziehen?

Zun?chst ist festzustellen, dass die die Sterberaten in Deutschland bisher deutlich unter denjenigen von Italien geblieben sind. In der vergangenen Woche (17. April) war zudem ein Abflachen der Wachstumskurve auch in Deutschland zu erkennen, was  den vorsichtigen Schluss zul?sst, dass wir dem Peak der t?glichen Sterbezahlen, nahe sind. Das gibt auch Anlass zur Vermutung, dass die vor einigen Wochen getroffenen Distanzma?nahmen wirken.

Spanien zeigt die schlimmste Entwicklung der neun verglichenen Staaten, wesentlich schlimmer noch als Italien. Die beste Entwicklung in diesem Vergleich zeigt Canada.


Wenn Sie Ihren Kenntnisstand zum gegenw?rtigen Zeitpunkt zusammenfassen – wo steht Deutschland bei der Bew?ltigung der Corona-Pandemie im internationalen Vergleich? Wie sollten wir weiter damit umgehen, welche Zahlen sollten erfasst werden und als Grundlage für politische Entscheidungen dienen?

Um die Infektion, die uns ja nach Auskunft der Epidemiologen noch lange Zeit begleiten wird, in ihrer Ausbreitung und Gef?hrlichkeit einzusch?tzen, sind m. E. dringend regelm??ige repr?sentative Test-Studien in unterschiedlich stark betroffenen Beispielsregionen notwendig, nicht nur vereinzelte. Denn ein Merkmal dieser Epidemie ist, dass sie sich keineswegs über ein Land gleichm??ig verteilt, sondern in Clustern auftritt. Bei regelm??iger Wiederholung solcher Studien l?sst sich dann auch direkt kontrollieren, welche Ma?nahmen welchen Effekt haben und welche Lockerungen vertretbar sind. Für internationale Vergleiche dürfte als ?hartes“ Vergleichsfaktum aus meiner Sicht die ?schwere Erkrankung“ noch aussagekr?ftiger sein als der Sterbefall. {web_name}es Kriterium, definiert als ?aufgrund COVID-19 erforderlicher Krankenhausaufenthalt“ w?re unabh?ngig von der Qualit?t der medizinischen Versorgung im Krankenhaus und ginge auch früher in die jeweilige Statistik ein als der Sterbefall. Todesf?lle weisen ja erst mit ziemlich gro?er Verz?gerung statistisch auf die Verbreitung des Virus hin. 

Die derzeit zur Verfügung stehenden Daten zeigen an, dass es in Deutschland trotz anf?nglicher Vers?umnisse relativ gut gelungen ist, das Virus in Schach zu halten und dass die Versorgung der Erkrankten weiterhin funktioniert. Dazu beigetragen haben die ergriffenen Ma?nahmen, die allerdings starke Freiheitsbeschr?nkungen und enorme wirtschaftliche Verluste mit sich brachten und noch bringen.

Die Ma?nahmen erscheinen mir bislang zwar durchaus legitim, aber die empirischen Daten, mit denen sie begründet wurden, bedürfen dringend zumindest einer Erg?nzung durch repr?sentative Studien.

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