?Achtung Literatur!“ – unter diesem Titel findet seit 2018 ein literarisches Quartett mit Lehrenden und Studierenden der Universit?t Regensburg statt. Die fünfte Runde des Formats legt die Vermutung nahe, dass der Titel auch als Warnung zu verstehen ist, denn die am 21. Juli 2022 im Kaufmannsgew?lbe im Haus der Begegnung pr?sentierten Romane sind nichts für empfindliche Gemüter: Thematisch geht es um Mobbing der übelsten Sorte, um Mord und Voyeurismus, um eine tragische Lebensbeichte und um eine ratlos machende Handlung voll von fiesem Personal. Trotz der harten Kost ist das literarische Stelldichein mit den Juristen Prof. Dr. Michael Heese und Prof. Dr. Tonio Walter, der neu hinzugewonnenen Philosophin Prof. Dr. Weyma Lübbe und dem (ehemaligen) Jurastudenten Lucas Nowottny unterhaltsam und tiefgründig.
Ratlosigkeit, aber nicht Unzufriedenheit
Professor Dr. Michael Heese stellt den Roman ?Heaven“ der japanischen Autorin Mieko Kawakami vor: Der vierzehnj?hrige Ich-Erz?hler fristet darin ein einsames Leben, gequ?lt und gedemütigt durch seine Mitschüler. Er freundet sich mit einer gleichaltrigen Mitschülerin an, die ebenfalls Opfer der mobbenden Schülermeute ist. Im Verlauf der Handlung wird klar, dass die Opferrolle der beiden nichts mit ihrer vermeintlichen k?rperlichen Absonderlichkeit zu tun hat: Sie werden gemobbt, weil die T?ter Lust dazu haben; dass die Wahl auf sie f?llt, ist nichts als Zufall. ?Für mich ist das die Kernaussage des Buchs“, so Michael Heese, ?es ist die sinnlose Wahrheit hinter dem Mobbing“. Professor Dr. Tonio Walter erg?nzt, das Buch habe ihn bedrückt, weil es die Ohnmacht schildert und erlebbar macht, die Willkür mit sich bringt. ?Ich empfinde Ratlosigkeit, aber nicht Unzufriedenheit als Leser“ resümiert Tonio Walter.
Der Zuschauer in jedem von uns
Ebenfalls keine leichte Kost pr?sentiert Professorin Dr. Weyma Lübbe mit ?Der Kameram?rder“, einem Roman des ?sterreichischen Schriftstellers Thomas Glavinic. In dem bereits 2001 erschienenen Werk schildert ein Ich-Erz?hler in Form eines Protokolls wie er zusammen mit seiner Lebensgef?hrtin und einem befreundeten Ehepaar die Ostertage verbringt. Zentral dabei ist der vom T?ter auf Video aufgenommene Mord an drei Kindern; die Aufnahmen landen bei einem Privatsender, der nicht nur das Filmmaterial zeigt, sondern auch die Ermittlung der Polizei im Fernsehen übertr?gt. Wie sich am Ende des Buches herausstellt, ist der Ich-Erz?hler der T?ter, das Protokoll endet mit dem Satz ?Ich leugne nicht“. Weyma Lübbe sagt, sie habe ambivalent auf das Buch reagiert, es sei gro?artig konstruiert, sprachlich gelungen und schildere zugleich absto?ende Gewalt. Es kreise um das Thema Voyeurismus und die Frage, wie man als Bürger mit den Medien umgeht. Die Art und Weise wie der T?ter die Kinder kurz vor ihrem Tod über ihre Gefühle befragt und an ihnen partizipieren will, verstehe sie als Analogie zu einer bestimmten Art von Berichterstattung. Lübbe wertet den Roman nicht als reine Medienkritik, es gehe ?um den Zuschauer in jedem von uns“. Tonio Walter sieht den Sinn des Buches darin, die gef?hrliche Macht des Voyeurismus aufzuzeigen: ?Wir wissen, dass wir uns für gewisse Dinge nicht interessieren sollten, machen es aber doch und fühlen uns dabei bestens unterhalten“.
Das Buch ist tiefer als sein Titel
Lucas Nowottny ist an diesem Abend der Kritiker aus den Reihen der Studierenden. Da die fünfte Runde von ?Achtung Literatur!“ durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie mehrmals verschoben werden musste, hat er mittlerweile sein Jura-Examen erfolgreich abgeschlossen. Nowottny hatte den Roman ?Das Leben wartet nicht“ des italienischen Schriftstellers Marco Balzano ausgew?hlt. Geschildert wird darin die Lebensgeschichte von Ninetto, der in sehr jungen Jahren von Sizilien nach Mailand migriert, um dort Arbeit zu finden. Ninetto erinnert sich als Ich-Erz?hler und alter Mann an seinen Lebensweg, an seine Arbeit, seine Heirat, seine Tochter und an eine schicksalstr?chtige Fehleinsch?tzung, die ihn ins Gef?ngnis bringt und das Band zur Familie seiner Tochter zertrennt. Als er das Gef?ngnis nach zehn Jahren verl?sst, beobachtet er Migranten aus China und Nordafrika, in denen er sein eigenes Schicksal gespiegelt sieht.
Der Erz?hlstrang allein l?sst es nicht vermuten, doch gerade dieses Buch wird von den vier Kritiker:innen sehr unterschiedlich interpretiert. Lucas Nowottny versteht den Roman als Aufruf des Autors, einander zuzuh?ren. Michael Heese dagegen gibt unumwunden zu, er halte Protagonist Ninetto für einen Jammerlappen. Weyma Lübbe widerspricht, ihrer Meinung nach liege die Intention des Autors darin, der Art des Lebens von Ninetto – Arbeiterklasse, Hintergrund der Kindermigration – eine Stimme zu geben. Tonio Walter ist der Meinung, der Roman Bolzanos kreise in erster Linie um das Thema M?nnlichkeit, der Mann werde als Problem begriffen, das durch Frauen katalytisch zur L?sung gebracht wird. Er liest den Roman als Appell, nicht nur zu arbeiten und Geld zu verdienen, sondern das zu tun, wozu wir da sind: Lieben und das den Menschen, die wir lieben, auch zu sagen. Tonio Walter fasst zusammen: ?Das Buch ist tiefer als sein Titel“.
Was ist Fiktion, was Realit?t und was soll das Ganze?
Beim letzten Buch des Abends, ?Herr Oluf in Hunsum" von Christopher Ecker, sind sich die vier Rezensenten dann wieder einig: ?Das Buch ist v?llig banane“ (um es mit den Worten von Michael Heese zu sagen). Tonio Walter schickt voraus, er habe das Buch für den literarischen Abend ausgew?hlt, bevor er es gelesen hatte, und gesteht, etwas überfordert gewesen zu sein. Es geht um Philosophie-Professor Oluf Sattler, um seine Reise zu einem wissenschaftlichen Kongress und seine Irrfahrt zurück. Er l?sst seine Frau und seinen Sohn krank zu Hause zurück, entwickelt daraufhin Schuldgefühle, die sich im Lauf der Handlung zu weiteren, ?lteren Schuldgefühlen gesellen. Der Kongress wird kein Erfolg für Sattler, zudem wird er auf dem Heimweg in einen Mord verwickelt. Den damit einsetzenden zweiten Teil der Handlung, Sattlers Rückkehr, habe sich ihm nicht erschlossen, so Tonio Walter. Ihm stelle sich die Frage: ?Was ist Fiktion, was Realit?t und was soll das Ganze?“. Sprachlich sei der Roman immer wieder brillant, saukomisch und er habe sich hin und wieder ertappt gefühlt, was die Schilderung des Professoralen angehe. Michael Heese setzt entgegen, dass man ganz genau wisse, was im zweiten Teil des Buchs passiere, und fasst zusammen: ?Sattler l?sst sich scheiden, zieht in ein Studentenwohnheim, schreibt das Buch seines Lebens, erpresst jemanden das Buch zu protegieren und heiratet neu.“ Das Buch sei enorm unterhaltsam, so Heese, eben weil es so abgedreht und absurd ist. Weyma Lübbe ist vom Roman nicht überzeugt und gibt zu, sie verspüre im Moment nicht die Tendenz, von diesem Autor noch einmal etwas zu lesen. Im ganzen Buch habe sie keine einzige positiv gezeichnete Figur entdeckt, es tr?ten durchwegs eitle, fiese, zickige und bauernschlaue Personen auf. ?Aber ganz so schlimm, sind die Leute an Universit?ten auch nicht, wie das hier geschildert wird“, so Weyma Lübbes vers?hnliches Schlusswort.
Der Abend endet mit drei Leseempfehlungen: Michael Heese votiert für ?Der Kameram?rder“, sein Urteil lautet ?hart aber gut“. Weyma Lübbe empfiehlt ?Heaven“. Lucas Nowottny stimmt für ?Das Leben wartet nicht“ und dieser Empfehlung schlie?t sich auch Tonio Walter an. Mit einem gro?en Dank an das Organisations-Team des Lehrstuhls und an den Sponsor des Abends, den Alumniverein Juratisbona, verabschiedet sich das literarische Quartett bis zum n?chsten Mal.
Informationen/Kontakt
Informationen zur Veranstaltungsreihe "Achtung Literatur!" auf der Webseite des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Zivilverfahrens- und Insolvenzrecht, Europ?isches Privat- und Prozessrecht sowie Rechtsvergleichung (externer Link, ?ffnet neues Fenster)