Von Krieg und Gewalt über Armut und Schuldenkrisen zu Pandemien und Naturkatastrophen – die Welt strauchelt. Eine regelbasierte internationale Ordnung, universell geltende Menschenrechte? Wer hoffte, glaubte, durch Globalisierung habe sich eine weltweite Konvergenz politischer Ziele etabliert, mit der sich Ph?nomenen wie Hass oder dem Klimawandel begegnen l?sst, irrte. Was kann, muss, will Regional-Forschung unter diesen Bedingungen leisten? Wie l?sst sich das Wissen um bestimmte Regionen und die Zusammenarbeit von Institutionen in diesen nutzen, um die Dauerkrise in der Endlosschleife erkl?ren und im Idealfall L?sungsans?tze für Probleme vorschlagen zu k?nnen? Komplexe Fragen, die die Konferenz ?Area Studies in the Polycentric Condition“ stellte, zu der sich etwa 50 internationale Wissenschaftler*innen am 16./17. November 2023 in Regensburg austauschten.
Transregional, interdisziplin?r, multiskalar
Professorin Dr. Anna Steigemann (Professur Soziologische Dimensionen des Raums) vom Department für Internationale und Multiskalare Area Studies (DIMAS) der Universit?t Regensburg (UR) und der wissenschaftliche Direktor des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS), Historiker Professor Dr. Ulf Brunnbauer, er?ffneten die Tagung gemeinsam mit der Vorsitzenden des Verbandes CrossArea e. V. - Verband für Transregionale Studien, Vergleichende Area Studies und Global Studies - Dr. Doris L?hr: CrossArea ist eine 2014 in Leipzig entstandene Initiative zu st?rkerer und langfristiger Kooperation von BMBF-gef?rderten Area Studies mit entsprechenden universit?ren und au?eruniversit?ren Instituten.
Was die Regensburger Area Studies ausmacht, mit welchem Ansatz sie Autorit?tsansprüche, vernetzte Protestbewegungen oder Konfliktlinien analysieren will, skizzierten Professorin Dr. Anna Steigemann und Professor Dr. Timothy Nunan (Professur Transregionale Wissenskulturen, DIMAS). Unabdingbar für regionale Expertisen seien multidisziplin?res Wissen und transregionale Zusammenarbeit. Die ?kologischen, ?konomischen, rechtlichen, politischen und sozialen Herausforderungen von heute lie?en sich l?ngst nicht mehr in Einzeldisziplinen verorten, sie seien nur interdisziplin?r zug?nglich. Schlie?lich: Ph?nomene, die die Wissenschaftler*innen untersuchen, n?hmen unterschiedliche Formen an und f?nden in unterschiedlichen R?umen statt – etwa auf der Ebene des Nationalstaats oder auf lokaler Ebene. Daher verfolgen die Regensburger Area Studies einen multiskalaren Ansatz.
?Doing Area Studies in the Polycrisis“
So vielf?ltig wie dramatisch sind die Herausforderungen, die Menschen und Welt zunehmend zur gleichen Zeit widerfahren: Die Forschung hat sie im Begriff der ?Polycrisis“ zusammengefasst. IOS-Direktor Brunnbauer, der das IOS vorstellte und mit anderen UR-Protagonist*innen im Bereich Area Studies den Tagungsteilnehmer*innen Hinweise auf einige der Regensburger Institutionen und Forschungsprojekte gab, sprach von ?tektonischen Krisen“: Steigemann und Nunan erinnern in der kurzen Einführung zu der offenen Diskussion ?Doing Area Studies in the Polycrisis“ an aktuelle Kriege, die Brüche unter den Betrachter*innen, den Blick des englischsprachigen Raumes auf deutsche und internationale Politik, gesellschaftliche Polarisierungen.
?An open invitation to disagree“ sprechen die Tagungsveranstalter*innen aus, bitten um Impulse, wie sich Risiken, aber auch die Chancen polarisierender Themen in Forschung und Lehre sprachlich und konzeptuell ad?quat vermitteln lassen, wie Area-Studies-Organisationen mit Verpflichtungen gegenüber ihren regionalen Partner*innen umgehen sollen/k?nnen/müssen, wie sich verhindern l?sst, dass man zur ?Sprachpolizei“ wird. Die Moderator*innen bieten an, pers?nliche Erlebnisse zu teilen, Ideen zu ?u?eren, ungel?ste Probleme aufzuzeigen. Eine Aufforderung, der die Area-Studies-Community gerne nachkommt. Viele treibt es um, dass globale Debatten ganze Gesellschaften polarisieren.
Es entspinnt sich ein ebenso umsichtiger wie vorsichtiger Erfahrungsaustausch, mit Erlebtem im bosnischen Srebrenica in den 1990er Jahren, akademischem Alltag in Nord-Irland, privaten Einblicken aus Russland und der Ukraine, um das Erbe von COVID-19. Es geht um Grenzen, Respekt, Empathie. Es geht darum, wie sich Einsch?tzungen sprachlich pr?zise und fachlich wertneutral vermitteln lassen; Max Weber ist nicht fern, trifft auf queeren Feminismus. Mediale R?ume müssen ausgewogen gefüllt werden, lautet eine Forderung, man dürfe die Bühne nicht den Welterkl?rer*innen im Rennen um die Talkshowquoten überlassen.
Gibt es L?sungsans?tze für den g?nzlichen Verlust bisher geltender Paradigmen? Doktorand*innen und Studierende schlagen vor, intensiv zu lehren, wie man Propaganda erkennt. Oftmals fehlten die Worte, gerade bei polarisierenden Themen. Für unabdingbar halten sie Strategien und Rat zum Umgang mit digitalen Informationsfluten. Einig ist sich das Auditorium, dass Universit?ten den Raum für Multiperspektivit?t und Diskurs bereitstellen müssen, vielleicht als einzige ad?quat k?nnen.
Klima, Medien, Aktivismus
Ein Panel mit Early-Career-Wissenschaftler*innen moderiert Professorin Susan Hodgett (University of East Anglia, Norwich) am zweiten Tag der Konferenz. Dr. Natalie Rauscher (Universit?t Heidelberg) greift in einem Methodenmix aus Politikwissenschaft und Linguistik mediale Berichterstattung von Naturkatastrophen in den Vereinigten Staaten von Amerika auf. Vielerorts haben sich Unwetter verschlimmert, und sie lassen die amerikanische Gesellschaft verwundbarer denn je zurück, sagt Rauscher. Sie analysiert die Diskurse und Katastrophen-Narrative der Mainstream-Medien, die Resilienz und Durchhalteverm?gen der Betroffenen preisen, aber selten auf das Versagen der Klimapolitik, nicht zuletzt der Trump-Administration, rekurrieren.
Clare Richardson, Journalistin und Doktorandin an der Freien Universit?t Berlin, nimmt das Auditorium mit einer Vielzahl historischer Bilder mit ins Black America und dessen Unabh?ngigkeitskampf. Sie berichtet von Stokely Carmichael und Amílcar Cabral, setzt sich mit den Grenzen amerikanischer Solidarit?t im portugiesischen Afrika auseinander. Yusra Abdullahi, Doktorandin an der Universit?t Leiden, Niederlande, forscht zu afrikanischem Aktivismus in den Vereinten Nationen; greift Beispiele aus Ghana, Uganda und Zimbabwe heraus und geht hart mit der UN ins Gericht – sie h?tte viel mehr unternehmen k?nnen, den Globalen Süden aus dem Kolonialismus herauszuführen, glaubt Abdullahi.
Caring Infrastructures und ?PostOst“
Die Industriedesignerin Miriam Kreuzer setzt sich in einem transdisziplin?ren Ansatz an der Akademie der bildenden Künste Wien mit der unsichtbaren Infrastruktur in urbanen R?umen auseinander: Sie durchziehen dies in Form komplexer Mobilit?tssysteme, digitaler Netze, kritischer Gesundheitsversorgung oder kollektiver Solidarit?tsstrukturen. Solche soziomateriellen Netzwerke stellen auch sozialr?umliche Ordnungen her; sie verfestigen strukturelle Ungerechtigkeiten, letztlich Machtverh?ltnisse. Dabei h?tten sie das Potenzial, zu Neu- und Umgestaltung, zu sozial?kologischer Transformation. Kreuzer will daher herausfinden, wie urbane Infrastrukturen zu caring infrastructures werden k?nnten: Zu Infrastrukturen, die in urbanen R?umen gemeinschaftlich Sorge tragen und Stadtpolitik auch im Hinblick auf Themen wie den Klimawandel ver?ndern.
Die Soziologin Li Yuxin, Doktorandin an der Universit?t Duisburg-Essen, blickt auf die Entwicklung des chinesischen Gesundheitssystem und den Einfluss nicht-chinesischer sozialpolitischer Modelle darauf. Anastasiia Marsheva, Doktorandin an der Justus-Liebig-Universit?t Gie?en, erhielt für ihre exzellente Masterarbeit einen der Area-Studies-Preise der Universit?t Regensburg 2022. Sie geht in ihrem Forschungsprojekt der Frage nach, unter welchen Bedingungen Ethnien übergreifende Identit?tskonstruktionen erzeugt, verbreitet oder auch aufgegeben werden. Unter anderem helfen ihre Interviews dabei, herauszufinden, inwiefern sich Ausgewanderte, insbesondere die Gruppe der ?PostOst“ in Deutschland, mit ihrer (famili?ren) Vergangenheit identifizieren und welche Rolle die Aufnahmegesellschaften in der Identifikation spielen.
Wissensproduktion und Forschungsdatenmanagement
Im abschlie?enden Tagungsabschnitt pr?sentieren Kathleen Schlütter und Carolina Rozo Higuera von der Universit?t Leipzig ihr Projekt “The Production of World Knowledge Transformed”; ein Runder Tisch in Sachen Forschungsdatenmanagement und digitale Infrastruktur zur Zukunft der Archive schlie?t sich an. Auch wenn es darum geht, die Datenbest?nde von Wissenschaft und Forschung systematisch zu erschlie?en, nachhaltig zu sichern und sie zug?nglich zu machen, bauen die Area Studies auf (inter-)nationale Vernetzung und transregionale Zusammenarbeit.
twa.
Informationen/Kontakt
Die CrossArea-Konferenz findet j?hrlich statt, 2023 erstmals in Regensburg. Sie bietet innovativer Forschung in Area Studies und Global Studies ein Forum, im Sinne des Vereins CrossArea e. V. Gastgeber an der Universit?t Regensburg waren 2023 das Department für Interdisziplin?re und Multiskalare Area Studies der Universit?t Regensburg (DIMAS), für das im Rahmen der Bayerischen Hightech-Agenda sechs neue Professuren an der Universit?t Regensburg eingerichtet wurden, und der Leibniz-WissenschaftsCampus ?Europa und Amerika in der modernen Welt“, eine gemeinsame Einrichtung der Universit?t Regensburg und des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS).
Department für Interdisziplin?re und Multiskalare Area Studies (DIMAS (externer Link, ?ffnet neues Fenster)) der Universit?t Regensburg
Leibniz-WissenschaftsCampus (LWC) ?Europa und Amerika in der modernen Welt“ (externer Link, ?ffnet neues Fenster)
Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS (externer Link, ?ffnet neues Fenster))
Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropa-Studien (GS OSES UR (externer Link, ?ffnet neues Fenster))
CrossArea e. V. (externer Link, ?ffnet neues Fenster)
NFDI4Memory (externer Link, ?ffnet neues Fenster) und Recent Globe (externer Link, ?ffnet neues Fenster), Universit?t Leipzig
Internationales Festival Fotografischer Bilder (externer Link, ?ffnet neues Fenster)
