Der ?Kolonialwarenhandlung“-Schriftzug an der Hausfassade, der Schokoladen-Botschafter in putzigen Pluderhosen: Oft nostalgisch interpretiert sind sie Schatten kolonialer Vergangenheit, die bis heute als Bilder oder Begriffe im Alltag herumspuken und historische und gegenw?rtige Pr?senz post-/kolonialer Realit?ten sichtbar machen. Am Zentrum Erinnerungskultur (ZE) der Universit?t Regensburg (UR) setzten sich Early-Career-Forschende von 24. bis 27. Juli 2024 mit der allenfalls vermeintlich banalen Allt?glichkeit kolonialistischer Weltbilder auseinander und diskutierten, wie sich diese reflektier- und verhandelbar machen lassen. Denn Geschichte und Gegenwart sind verschr?nkt, sie lassen sich nicht unabh?ngig voneinander lesen.
Die Tagung begann am 24. Juli mit einem Abendvortrag von Dr. Ali Aberkane, Germanist der Universit?t Algier 2, der eine postkoloniale Lesart des Romans ?Topographie idéale pour une agression caracterisée“ des algerischen Schriftstellers Rachid Boudjedra in der Stadtbücherei Regensburg zur Diskussion stellte; sein Vortrag war zugleich Teil der ZE- Veranstaltungsreihe ?Debatten & Positionen zur Erinnerungskultur“. Zwei Tagungssektionen setzten sich am Tag darauf mit literarischen Narrativen postkolonialer Heimatlosigkeit und Migration sowie dem Kolonialismus ?vor Ort“ auseinander.
Dr. Philipp Bernhard und Dr. Regina Schuhbauer vom ZE der UR hatten die Tagung ?Postkoloniale Perspektiven auf Erinnerungskultur“ initiiert. Studierende, Doktorand*innen, Postdocs und Professor*innen untersuchten zun?chst Begrifflichkeiten und methodische Zug?nge. Sie brachten verschiedene fachliche Perspektiven ein: Die Teilnehmenden waren interdisziplin?re Forschende aus verschiedenen St?dten und L?ndern, aus (Landes-)Geschichte, Literaturwissenschaften und Area Studies, aus Citizen-Science-Projekten und Geschichtswerkst?tten.
Geschichtsvermittlung postkolonial
Das koloniale Erbe ?vor Ort“ in Regensburg und Bayern analysierten am zweiten Konferenztag der Globalhistoriker Dr. Michael R?sser von der Universit?t Bamberg und Dr. Philipp Bernhard, wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZE und Gymnasiallehrer für Geschichte, Englisch und Ethik. Bernhard, der zu Beginn postkoloniale Initiativen aus Augsburg, Bayreuth und München vorstellte, hat selbst ma?geblich an der Initiative ?Augsburg Postkolonial. Decolonize Yourself!“ mitgewirkt und sensibilisierte dort bei Stadtrundg?ngen u. a. dafür, dass Fugger und Welser als global agierende Handelsh?user und die Welser mit der Kolonisierung Venezuelas 1528 auch den Beginn deutscher Kolonialgeschichte schrieben. Augsburg war wie London, Paris oder Venedig im 16. Jahrhundert Metropole und Umschlagplatz zwischen Europa, Afrika und der ?Neuen Welt“. Wer im Zeitalter der beginnenden Globalisierung Handel trieb, profitierte – direkt oder indirekt – von Sklaverei und Ausbeutung.
Wie m?chte, wie muss man mit dieser kolonialen Vergangenheit umgehen? Was tun mit entsprechenden Stra?ennamen, mit Denkm?lern, mit Plaketten, die als Erinnerungsorte das kollektive Ged?chtnis pr?gen? Muss man ein ?Kolumbusjahr“ unreflektiert feiern? Mit dem ?Eroberer“ begann die spanische Kolonialzeit auf dem amerikanischen Kontinent – für die indigene Bev?lkerung der Beginn von Mord und Unterdrückung. Es brauche einen Perspektivwechsel und die Etablierung eines transkulturellen Dialogs, darüber waren sich die Konferenzteilnehmer*innen einig.
Konsens bestand auch dahingehend, dass die eurozentristischen Narrative in Kultur und Gesellschaft zunehmend aufzubrechen seien. Aus Sicht der Referenten braucht es nicht zuletzt Impulse für den Schulunterricht. Bernhard analysiert dies u. a. in seiner Monografie ?Geschichtsdidaktik postkolonial. Eine geschichtsdidaktische Vermessung postkolonialer Theorie“ auf über 600 Seiten in beeindruckender Weise.
?Glokalisierung“
(Wiederkehrende) Debatten um belastete Namen, Begriffe, Symbole, um ?koloniale Kontinuit?ten“ kennt auch Regensburg – die ?Drei-Mohren-Stra?e“ geh?rt zu den prominenteren Beispielen. Michael R?sser, selbst Regensburger, führte seine Kolleg*innen im Tagungskontext durch die Stadt und machte auf ihre postkolonialen Spuren aufmerksam. Deutlich wurde: St?dte, Regionen, L?nder – sie wirken in Bezügen mit anderen Orten bzw. R?umen, sie sind Produkt sozialer Beziehungen, kultureller Bedeutung und emotionaler Identifikation.
Die Referenten verwiesen u. a. auf Hamburg und München, wo zwischenzeitlich aus Universit?ten und Zivilgesellschaft heraus Initiativen entstanden sind, die sich mit R?umen und Kolonialgeschichte besch?ftigen. In vielen kleineren St?dten stehen solche Auseinandersetzungen noch immer am Anfang – obwohl das deutsche Kolonialreich, fl?chenm??ig das drittgr??te nach dem britischen und franz?sischen, auch in die Provinz reichte. Verantwortung für kolonialhistorische Themen, das machten R?ssers Ausführungen deutlich, delegierte man auf Landesebene gerne nach oben, in den ?nationalen Kontext“. Doch die Realit?t war auch lokal.
Decolonize yourself!
So gab es eine ?Koloniale Sonderausstellung“ in der Gro?en Oberpf?lzer Kreisausstellung 1910; im dazugeh?rigen Programmheft warb ein Regensburger Unternehmer für die von ihm vertriebenen ?Trikot-Unterkleider aus deutscher Colonial-Baumwolle“ – entstanden in Zwangsarbeit. Die ?Sonderausstellung“ sollte den Auftakt für die Etablierung eines Kolonialmuseums in Regensburg bilden, berichtete R?sser. Er erinnerte daran, dass es um 1900 ein gro?es Bestreben war, gro?e R?ume zu erschlie?en, über Eisenbahn, Schifffahrt und Telegrafie. Die neue Infrastruktur schuf weitere koloniale Imagination. Der geopolitische Blick fiel in Regensburg dabei aufs ?stliche Europa.
R?ume postkolonialer Erinnerung sind allgegenw?rtig und losgel?st von Grenzen und Geographie, verknüpft mit Austausch und Migration. Sie sind in weltumspannende Verflechtungen eingebunden, transnational und transkontinental. Lokale Bezüge sind pr?gend. ?Vor Ort“ spielt in verschiedener Hinsicht eine Rolle.
So seien beispielsweise Stra?en Erinnerungsorte, ihre Benennungen, etwa nach Personen, spiegelten stets die aktuellen Verh?ltnisse, Weltanschauung und Kultur bis hin zu den Herrschaftsverh?ltnissen der entsprechenden Zeit wider. Wer vor 50 oder 100 Jahren ehrwürdig war, muss es nicht zwangsl?ufig heute auch sein. In Bernhards Workshop schlüpften die Teilnehmenden im Rahmen eines fiktiven Szenarios in die Rolle des wissenschaftlichen Beirats einer Augsburger Kommission für Erinnerungskultur, um aus dieser Perspektive über den Umgang mit kolonialen Stra?ennamen, wie der Columbusstra?e oder dem Welserplatz zu diskutieren.
In R?ssers Workshop setzten sich die die Tagungsteilnehmer*innen mit einem Lokalzeitungsartikel zur Ausstellung ?Weiss auf Schwarz – Kolonialismus, Apartheid und Widerstand“ im Jahr 1986 in Regensburg auseinander. Kolonialismus und Kolonialgeschichte wurden in der Berichterstattung nicht direkt thematisiert – obwohl das Begleitprogramm zur Ausstellung einschl?gige M?glichkeiten geboten h?tte. Uwe Timm las aus ?Morenga“, im Kino lief ?Die Liebe zum Imperium“ von Peter Heller. Der Fokus des Beitrags hingegen lag auf Besch?digungen von Ausstellungsstücken; dahinter vermutet wurden ?Alt-Nazis“. Der sog. Historikerstreit fiel in dieses zeitliche Umfeld; er mag ein Grund dafür gewesen sein.
Was für eine Gesellschaft wollen wir sein?
Im Plenum trugen die Workshop-Teilnehmer*innen ihre Erkenntnisse zusammen. Dazu geh?rte, dass partizipatorische Ans?tze wünschenswert seien. Aber sie sind offensichtlich h?chst komplex – und kompliziert dazu. Aus aktivistischer Perspektive gestalte sich manches noch einmal anders, sagte eine Tagungsteilnehmerin, die Interessierte durch das koloniale Bayreuth führt. Gerechtigkeit werde nicht automatisch durch das ?ndern eines Stra?ennamens hergestellt. Es brauche Antworten auf die Frage: Was wollen wir für eine Gesellschaft sein, worauf k?nnen wir uns einigen?
Im Stadtarchiv Regensburg nutzten die Wissenschaftler*innen am dritten Konferenztag die M?glichkeit, Best?nde mit Bezügen zum deutschen Kolonialismus zu sichten. Weitere Themen: May Ayim – Alumna der UR, afrodeutsche Aktivistin, P?dagogin und Schriftstellerin. Sie zog Anfang der 1980-er Jahre von Regensburg nach Berlin, wo 2010 das ehemalige Gr?ben-Ufer nach ihr umbenannt wurde und heute May-Ayim-Ufer hei?t. M?glicherweise verlie? sie Regensburg, weil sie als Tochter einer Deutschen und eines Ghanaers vor Ort mit Rassismus konfrontiert war. ?ber die Quellen zu May Ayim im Universit?tsarchiv sprachen die Forschenden mit dem Universit?tsarchivar Dr. Andreas Becker am Nachmittag. Am Samstag setzten sich die Wissenschaftler*innen abschlie?end noch mit einem ?unerwarteten Ort“, wie Philipp Bernhard ihn charakterisierte, auseinander: Dem ?Afrikamuseum“ der Benediktinerabtei Schweiklberg im niederbayerischen Vilshofen an der Donau.
Informationen/Kontakt
Zum Zentrum Erinnerungskultur (externer Link, ?ffnet neues Fenster) der Universit?t Regensburg
Open-Access-Literatur und Internetportale zum Thema:
Philipp Bernhard: Geschichtsvermittlung postkolonial. Eine geschichtsdidaktische Vermessung Postkolonialer Theorie. G?ttingen 2024. https://www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/themen-entdecken/paedagogik-soziale-arbeit/schulpaedagogik/58939/geschichtsvermittlung-postkolonial (externer Link, ?ffnet neues Fenster)
Michael R?sser: Prisms of Work: Labour, Recruitment and Command in German East Africa, Berlin, Boston: De Gruyter Oldenbourg, 2024. https://doi.org/10.1515/9783111218090 (externer Link, ?ffnet neues Fenster)
Post-/koloniale Spuren in München: https://mapping.postkolonial.net/ (externer Link, ?ffnet neues Fenster)
Unterstützt wurde die Tagung durch die F?rderung der Regensburger Universit?tsstiftung Hans Vielberth (externer Link, ?ffnet neues Fenster). Der postkoloniale Stadtrundgang fand in Zusammenarbeit mit dem Evangelischen Bildungswerk Regensburg e.V. (externer Link, ?ffnet neues Fenster) statt sowie der Fachschaft Geschichte (externer Link, ?ffnet neues Fenster), einem Seminar aus der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universit?t Regensburg, dem Jugendbeirat Regensburg (externer Link, ?ffnet neues Fenster), der Partnerschaft für Demokratie Regensburg. Gef?rdert wurde der Stadtrundgang darüber hinaus durch das Bundesprogramm ?Demokratie leben!“ (externer Link, ?ffnet neues Fenster) des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.